4 Die Krise der Mathematik

4.1 Algorithmen in der Mathematik
4.2 Von Leibniz bis Hilbert
4.3 Gödel's Unvollständigkeitssatz
4.4 Quo vadis?

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4.1 Algorithmen in der Mathematik

Rund um das Jahr 800 n.C. lebte in Bagdad der Universalgelehrte Abu Jafar Al-Khwarizmi. Er ist der Autor mehrerer Lehrbücher zur Astronomie und zur Mathematik. Sein wohl berühmtestes Werk trägt den Titel "Kitab Al-Jabr Wal-Muqabala", also: "Buch für die Rechnung durch Vergleich und Reduktion". Damit gehen gleich zwei mathematische Fachausdrücke auf diesen Mann zurück: das Wort "Al-Jabr" aus dem Titel seines wichtigsten Lehrbuchs stand Pate für die "Algebra", und aus seinem Namen ("Al-Hwarizmi") leitet sich die Bezeichnung "Algorithmus" ab: im 13. Jahrhundert wurde sein "Buch über die Rechnung durch Vergleich und Reduktion" ins Lateinische übersetzt, und der Übersetzer begann jedes Kapitel mit "Dixit Algorithmi", d.h. "Also sprach Al-Khwarizmi"! [1]

Es ist kein Zufall, dass ein so grundlegender Begriff wie "Algorithmus" in Zusammenhang mit dem Problem der Weitergabe mathematischen Wissens, also dem Mathematik-Unterricht, entstanden ist. In der Tat wird das gesamte mathematische Basis-Wissen zunächst in Form von Algorithmen an die jeweils nächste Generation weitergegeben. Dabei ist es nicht unbedingt nötig, dass die Zöglinge wirklich begreifen, warum z.B. die schriftliche Multiplikation zweier natürlicher Zahlen genau so funktioniert, wie sie gelehrt wird. Wichtig ist zunächst einmal, dass sie es immer genau so machen! Der Vorteil algorithmischer Formulierungen ist, dass mit ihnen mathematische "Techniken" anwendbar und verfügbar werden, ohne dass der Anwender die zugrunde liegenden mathematischen Zusammenhänge ganz durchblicken muss. Die so "formalisierte Mathematik" ist ein mächtiges Instrument, dessen sich auch Nicht-Mathematiker durchaus bedienen können - genügend Fleiß beim Erlernen der Algorithmen vorausgesetzt!

Der offensichtliche Erfolg der als Algorithmen formulierten mathematischen Techniken führte über die Jahrhunderte hinweg zu dem heute etablierten Bild der Mathematik als einer exakten, zuverlässigen und "wahren" Wissenschaft. Und in den Köpfen der Mathematiker verfestigte sich die Idee, dass alle mathematischen Probleme schließlich einer Lösung zugeführt werden können, wenn man nur fleißig weiter an der Entwicklung entsprechender Algorithmen arbeitet.





"Wenn sich eine Frage überhaupt stellen lässt,
so kann sie auch beantwortet werden."
(Ludwig Wittgenstein, "Tractatus
logico-philosophicus", 6.5)

4.2 Von Leibniz bis Hilbert

Stellvertretend für die Mathematiker früherer Jahrhunderte soll hier Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) seinen Auftritt haben - hatte er doch schon 1674 mit dem Entwurf einer mechanischen "Vier-Spezies-Rechenmaschine" einen Urahn des heutigen Taschenrechners entworfen! Dieses Gerät beherrschte immerhin die vier Grundrechenarten, und tatsächlich konnte Leibniz ein leidlich funktionierendes Exemplar realisieren lassen. Seine Bemühungen um eine Mechanisierung der Rechenvorgänge hatten das Ziel, die Mathematiker von den vielen zeitraubenden und fehleranfälligen Rechnungen "von Hand" zu entlasten.

Die hier eigentlich interessierende Leistung von Leibniz ist jedoch eine andere: er hatte erstmals die Idee einer formalen Sprache, in der alle menschlichen Gedanken ausgedrückt und die Ergebnisse geistiger Tätigkeit dokumentiert werden könnten. Lassen wir dazu Leibniz selbst zu Wort kommen:

Die Idee von Leibniz ist also, alle menschliche Geistestätigkeit in den Rahmen einer umfassenden formalen Sprache zu stellen, deren Symbole "eindeutig" sind und deren Struktur Fehlschlüsse als Grammatik- oder "Rechenfehler" kenntlich macht. Nebenbei sollen auch noch alle Sprachbarrieren überwunden werden, denn mit diesem Esperanto des Geistes würden natürlich die normalen Umgangssprachen überflüssig!

Leibniz' Gedanken liegt die Überzeugung zugrunde, dass jedes exakt beschreibbare Problem in dieser hypothetischen "vernünftigen Sprache oder Schrift" eindeutig darstellbar, ja sogar entscheidbar ist! Also muss die algorithmische Methode der Mathematik auf den gesamten Bereich menschlicher Geistestätigkeit anwendbar sein: Leibniz möchte "in der Metaphysik und Moral genau so argumentieren wie in der Geometrie und der Analysis". Nur wenn dies möglich ist, kann das "Nachrechnen" zum Entscheidungskriterium sogar in "philosophischen" Streitfragen gemacht werden! Leider kam Leibniz nicht dazu, seine Idee einer "vernünftigen Sprache oder Schrift" zu realisieren.

Rund 200 Jahre später sind die Pläne nicht mehr ganz so hochfliegend, aber dafür konkreter. Die Mathematiker beschränken sich inzwischen auf ihr ureigenes Arbeitsgebiet, nämlich die Mathematik. Innerhalb dieses Bereiches ist jedoch der Glaube an die algorithmische Methode ungebrochen. David Hilbert (1862-1943) schreibt:
Viel klarer kann man sein Glaubensbekenntnis zur unbedingten Entscheidbarkeit kaum formulieren! Folgerichtig ging Hilbert daran, die Leibniz'sche Idee von der "vernünftigen Sprache oder Schrift" in die Tat umzusetzen, indem er nämlich die Methode der algorithmischen Formulierung auf die gesamte mathematische Sprache ausdehnte: sein Ziel war die Erstellung eines umfassenden formalen Regelwerks, in dem sich ein Mathematiker sicher bewegen kann. Ob ein Schluss von einer Aussage auf eine andere richtig ist, sollte sich völlig unabhängig vom Gehalt dieser Aussagen nur aufgrund von formalen Regeln begründen lassen. Über die Arbeitsweise eines Mathematikers unter diesen neuen Bedingungen sagt Hilbert selbst:
Für die Formalisten war daher die "Bedeutung" einer Aussage relativ unwichtig, ja eher hinderlich für das korrekte Arbeiten! Daher neigten sie dazu, die mathematischen Objekte jeglicher Bedeutung zu entkleiden. Hilbert selbst formulierte zum Beispiel im Hinblick auf die Geometrie die drastische Aussage:
Oder "Knerpfel", "Plexi", "Jodul". Oder irgend einen anderen "Un-Sinn". Für Hilbert ist der Begriff "Punkt" also nur noch eine austauschbare Bezeichnung für ein ziemlich virtuelles Objekt, von dem nur die Art seiner Beziehungen (Relationen) zu anderen Objekten bekannt sein muss. Dadurch wird es innerhalb seines formalistischen Systems überflüssig, dass irgend jemand weiß, was ein "Punkt" "ist". Formalistische Mathematik zeichnet sich durch einen ziemlich penetranten Verzicht auf jegliche Veranschaulichung und Konkretisierung ihrer Objekte aus - was sie für Anfänger nicht gerade attraktiv macht.

Der formalistische Ansatz erwies sich jedoch in der Praxis als ein überaus mächtiges Werkzeug: wer sich zumindest mal keine formalen Fehler (also Regelverstöße) zuschulden kommen lässt, darf sich der Korrektheit seiner Argumentation in erheblich höherem Maße sicher sein, als ein Anderer, der dies für seine Argumentation nicht begründen kann. Eine der kleineren positiven Nebenwirkungen der formalistischen Methode ist, dass nun auch Computerprogramme mit "Punkten" umgehen können, ohne dass wir ihnen unterstellen müssten, dass sie "verstehen" würden, was sie tun. Welch ein Triumph der algorithmischen Methode!





4.3 Gödel's Unvollständigkeitssatz

Im Folgenden wird es viel um die "Arithmetik" gehen. Darunter versteht man zunächst die Lehre vom elementaren Umgang mit den (natürlichen) Zahlen, also das, was man gewöhnlich in der Grundschule an Mathematik lernt: Addieren, Subtrahieren, Malnehmen und Teilen. Hinzu kommt noch das Prinzip der vollständigen Induktion, von dem man in der Grundschule gewöhnlich nichts erfährt, das aber zu den elementaren Eigenschaften der natürlichen Zahlen dazugehört.

Im Jahre 1931 schockte der österreichische Mathematiker Kurt Gödel (1906-1978) die Mathematische Welt mit einem Satz, der sich in unserem Kontext so formulieren lässt:

Es gibt keinen Algorithmus, mit dessen Hilfe man für jede arithmetische Aussage in endlich vielen Schritten entscheiden kann, ob sie wahr oder falsch ist.

Daraus folgt sofort, das es unentscheidbare arithmetische Aussagen geben muss! Also wird mit diesem Satz die Idee von der "totalen Entscheidbarkeit" zu Grabe getragen: nichts ist's mit der Leibniz'schen "Entscheidung durch Nachrechnen", aber auch Hilbert's formalistisches Programm findet ein jähes Ende. Wenn es schon in der Arithmetik unentscheidbare Aussagen geben muss, dann muss dies erst recht für alle Theorien gelten, die die Arithmetik enthalten. Und welche mathematische Theorie kommt schon ohne Zahlen aus? Mithin muss man in jeder (nicht-trivialen) Theorie damit rechnen, auf unentscheidbare Aussagen zu stoßen.

Wie kann man denn eine Aussage konstruieren, von der man sicher sein kann, dass man sie nicht entscheiden kann? Kann man den entsprechenden Gedankengang von Gödel nachvollziehen? Nun, die Details sind einigermaßen mühsam zu verstehen, aber die Grundidee ist nicht gar so unzugänglich. Lassen Sie es uns mal probieren - immerhin ist dieser Satz ein ernsthafter Kandidat für den Titel "Berühmtester Satz des 20. Jahrhunderts"!

Die Hauptarbeit des Gödel'schen Beweises besteht in der Gödelisierung der Aussagen der Arithmetik. Wir wollen Gödel glauben, dass ihm dies gelungen ist. (Dieser Teil des Beweises nimmt übrigens den größten Raum in Gödel's Arbeit ein.) Weiter setzen wir vereinfachend voraus, dass alle arithmetischen Aussagen als Aussagen über genau eine natürliche Zahl formuliert werden können, die der Aussage als Argument übergeben werden soll - analog zu unserem Vorgehen bei den partiellen Funktionen, wo wir auch gegebenenfalls mehrere Argumente in einer natürlichen Zahl "versteckt" haben. Sei also [An(w) mit n Î N] eine Liste aller arithmetischen Aussagen.

Wenn wir nun eine dieser Aussagen beweisen wollen, so müssen wir dazu meist mehrere Aussagen (mit den passenden Argumenten) hintereinander hängen. Auch die Menge dieser Beweise lässt sich gödelisieren - was wir wieder glauben. Sei also [Bm mit m Î N] eine Liste aller möglichen Beweise. Jetzt konstruieren wir die folgende Aussage:
        ~$x [Bx beweist Aw(w)]
Dies bedeutet: "Es gibt kein x, so dass Bx ein Beweis für Aw(w) ist", also kurz: es gibt keinen Beweis für Aw(w). Die Tilde (~) ist also der NOT-Operator der logischen Verneinung. Diese Aussage über die Nichtbeweisbarkeit von Aw(w) muss ebenfalls in der obigen Liste aller Aussagen vorkommen. Wir suchen die Liste durch.... und siehe da, beim Index w = g werden wir fündig! Es gilt also:
        ~$x [Bx beweist Aw(w)] = Ag(w)
Nun untersuchen wir diese Aussage für einen speziellen Wert des Arguments w, nämlich w = g:
        ~$x [Bx beweist Ag(g)] = Ag(g)
Die heiße Frage ist nun: Gibt es für Ag(g) einen Beweis? Offenbar nicht, denn Ag(g) ist ja gerade selbst die Aussage, die besagt, dass es für Ag(g) keinen Beweis gibt. Also können wir Ag(g) nicht beweisen!

Vielleicht können wir Ag(g) ja deswegen nicht beweisen, weil es falsch ist? Nehmen wir also mal an, Ag(g) sei falsch, dann wäre notwendigerweise ~Ag(g) wahr:
        $x [Bx beweist Ag(g)] = ~Ag(g)
Die linke Seite bedeutet nun, dass es einen Beweis für Ag(g) gibt. Das ist aber fatal, denn wir haben ja gerade angenommen, dass Ag(g) falsch sei - und nun haben wir einen Beweis für eine falsche Aussage gefunden! Also war unsere Annahme falsch, und die Aussage Ag(g) muss wohl doch wahr sein!

Wenn nun aber Ag(g) wahr ist, dann haben wir keine Chance, diese Aussage in unserem System zu widerlegen. Beweisen lässt sie sich aber nach wie vor nicht, wie wir schon oben festgestellt haben.

Mithin ist Ag(g) eine Aussage, die weder bewiesen noch widerlegt werden kann, also unentscheidbar ist! Q.E.D.


Zum Schluss noch zwei Bemerkungen zu diesem Beweis:



4.4 Quo vadis?

Obwohl der Gödel'sche Satz und die daraus resultierenden Folgerungen die Mathematik in ihren Grundlagen erschüttert haben, blieben die Folgen auffällig gering. Sicher gab es in den Jahren danach teils heftige Auseinandersetzungen um den rechten Weg und eine solide Grundlegung der Mathematik, aber die Mehrzahl der Mathematiker wendete sich recht bald von diesem unerquicklichen Thema ab: die Fortschritte auf diesem Gebiet waren nämlich eher klein, und es gab ja soooo viel Anderes und Wichtigeres zu tun! Also gingen denn die meisten Mathematiker an ihre alltägliche Arbeit zurück und trieben "business as usual", ohne sich groß um die von Gödel losgetretene Grundlagenkrise der Mathematik zu kümmern. Man zog sich im Wesentlichen auf den formalistischen Standpunkt von Hilbert zurück, und ignorierte die Beschränkungen, die sich aus Gödel's Überlegungen ergaben.

Und dabei ist's geblieben bis zum heutigen Tag. Da das Thema schwierig ist - wie Sie sicher schon bemerkt haben! -, ist es "dem Mann auf der Straße" kaum zu vermitteln. Und dies wird auch der Grund sein, warum das Bild der Mathematik in der Öffentlichkeit unter diesen Erschütterungen nicht wesentlich gelitten hat. Nach wie vor gilt nämlich den meisten Menschen die Mathematik als Gralshüterin der Wahrheit; dass ihr Gebäude auf Sand gebaut sein könnte, nimmt kaum jemand zur Kenntnis.

Möglicherweise ist eine stabile Grundlegung der Mathematik mit ihren eigenen Methoden gar nicht möglich. Bezeichnenderweise haben alle mathematischen Sätze die Form "Wenn...., dann..."! Dies zeigt, dass ihre Wahrheit nicht darin liegt, dass "die Behauptung stimmt", sondern darin, dass der von der Voraussetzung zur Behauptung zeigende Folgepfeil korrekt ist! Ist nicht schon viel gewonnen, wenn wir vernünftig mit dem Folgepfeil umgehen lernen? Hilbert's Formalismus weist uns einen Weg dazu. Gödel warnt, dass es uns so nicht gelingen wird, alle möglichen Fragen zu beantworten. Aber vielleicht genug?

Ist es nicht sogar tröstlich, wenn Gödel sicherstellt, dass es Bereiche des menschlichen Denkens gibt, die prinzipiell nicht algorithmisierbar sind? Längst wurde das menschliche Hirn vom Computer überrundet, was Präzision und Geschwindigkeit angeht. Der erfolgreichste Schachspieler auf diesem Planeten ist ein Programm! Trotzdem werden wir das Gefühl nicht los, dass wir doch irgendwie "besser" sind - und Gödel zeigt uns, was uns vom Computer unterscheidet: wir können Bedeutungen erfassen!







[1] Rüdeger Baumann, "Informatik für die Sekundarstufe II", Band 1, S. 168
[2] Jochen Ziegenbalg, "Algorithmen", S. 227f
[3] Rüdeger Baumann, "Informatik für die Sekundarstufe II", Band 2, S. 247
[4] David Hilbert, "Die Grundlagen der Mathematik", S. 68
[5] Hans Wussing, "Biographien bedeutender Mathematiker", S. 495ff

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